Verworfenes Zeug aus der Schreibwerkstatt (1)

Die Sirenen der Neuzeit flackern blau. Ihr Gesang ist alles andere als betörend. Und doch gelingt es ihnen immer wieder, neue Opfer in ihren Bann zu ziehen. Nicht alle überleben. Ihre Verwandtschaft mit den Harpyien ist kaum zu verleugnen.

Auch ich bin ihnen ins Netz gegangen. Doch ich habe überlebt. Ich bin nicht sicher, ob ich erleichtert darüber sein soll. Die Sirenen übergeben mich an einen Halbgott in Weiß, der mit einem Fischwesen nur ein paar Schuppen gemeinsam hat. Sterbliche sterben lassen gehört nicht zu seinem Repertoire. Auch nicht die Sterblichen, die gerne gestorben wären.

Ein Unfall, heißt es später in der Zeitung. Ein Unfall, liebe Lotte, ein schlimmer Unfall in der Idylle von Wahlheim. Doch Lotte, die weiße Halbgöttin der Fachrichtung mit dem griechischen Namen, glaubt nicht, was in der Zeitung steht. Sie glaubt, was mein Schweigen ihr deutlich sagt. Sie schickt mich in ihr Reich, ganz in der Nähe des Hades, meines eigentlichen Ziels: die Klapse.

Lottes Assistentin Kalliope hat 1001 Fragen an mein Schweigen. Sie notiert eifrig alle seine Antworten. Ich wäre viel lieber allein mit meinem Schweigen. Ich sehe aus dem Fenster hinunter auf den träge dahinschleichenden Fluss und frage mich, ob ich einfach nicht genug Geld für den Fährmann dabei hatte. Und ob ich nun 100 Jahre hier in dieser unbarmherzig ausgeleuchteten Halbwelt mit dem beißenden Geruch am Ufer bleiben muss. Eine Ameise läuft die Fensterbank entlang. Macondo ist überall, denke ich.

Meine Gedanken flackern wie das blaue Licht der Sirenen in der Nacht. Sie werden zurückgeworfen wie ein Echo in der Leere der Einsamkeit. Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel. Blaue Gedankenstrahlen ziehen ein undurchdringliches Netz durch meinen Kopf. Vielleicht ist Kalliopes Schreibtafel der Schlüssel. Vielleicht führen ihre Notizen ins Nichts.

Wir haben 100 Jahre Zeit, um das herauszufinden. Oder bis zu ihrem Schichtende. Bis sie ihre Schreibtafel weglegt und mich und mein Schweigen vergisst. Dann bin ich wieder allein mit meinen Gedanken, der Einsamkeit und der Ameise. Ich nenne sie Melpomene.


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