Physische Aktivität ist gut für die psychische Gesundheit, heißt es. Die Frage ist: Wie weit muss ich laufen, bis es wirkt? 10 Kilometer? 20 Tagelang? Oder geht es darum, dass der physische Schmerz größer ist als der psychische Schmerz?
Bin ich schon an diesem Punkt angekommen? Kilometer 8. Schwüle Juniluft verklebt meine brennenden Lungenbläschen. Meine Beine zittern, die Muskeln krampfen, die Blasen haben Blasen. Ich laufe nie. Ich bin noch nie gelaufen, bis ich heute Morgen das Bedürfnis verspürte, vor meinem Schmerz davonzulaufen. Und bin dem Schmerz direkt in die Arme gelaufen. Ich stehe im Nirgendwo. Zwischen sattgrünen Wiesen und sich gelb färbenden Feldern. Bienen summen. Vögel zwitschern. Blümchen blühen. Schmetterlinge flattern. Bäume rauschen. Mücken stechen. Es riecht nach Schweiß und feuchter Vegetation. Es ist schön hier. Es ist zum Kotzen hier. Hier ist 8 Kilometer weit weg von zu Hause. Hier ist 8 Kilometer weit weg vom Schmerz. Hier ist mitten im Schmerz.
Ich kämpfe mit jedem Atemzug. Vielleicht sollte ich umkehren. 8 Kilometer sind weit weg. Ich drehe mich um. Hinter den grünen Hügeln liegt die Vorstadthölle. Ich kann sie sehen. Ich kann sie fühlen und die Diagnose ist klar: Der physische Schmerz ist nicht größer als der psychische Schmerz. Plötzlich ist noch weniger Sauerstoff in der Luft.
Gedanken rauschen durch meinen Kopf wie ein schlecht eingestellter Fernsehsender. Ich kann mir selbst nicht folgen. Und ich bin nicht sicher, was echt ist und was Hirngespinst. Irgendein Teil meines Gehirns besteht aufs Laufen, laufen gegen den Schmerz, laufen, befiehlt es, laufen. Mein ganzer Körper wehrt sich gegens Laufen, keine seiner Fasern kann noch einen Schritt laufen, aber das Hirn befiehlt, das Hirn bestimmt, das Hirn hat recht. Ich habe keine Ahnung, wo im Raum sich meine Gliedmaßen befinden, aber mein Hirn wird es schon wissen, ich trabe los und stolpere über meine schmerzenden Füße. Ich spüre, wie die Haut über den Knien am Asphalt kleben bleibt, während auch mein Gesicht sich ihm nähert, bis mein Hirn beschließt, auch die Haut über denHandballen dem Asphalt zu opfern.
Ich rolle mich auf den Rücken und bleibe liegen wie ein Käfer. Nur ohne zappeln. Zeit vergeht. Blut und Gewebeflüssigkeit bilden klebrige Masse. Brennende Sonne wird bedeckt von dunklen Wolken. Sonntagmittag im Nirgendwo. Schmerz verschwimmt mit Schmerz und bildet eine klebrige Masse. Es war alles schön hier. Es ist zum Kotzen hier.
Nun ist also Humpeln das neue Laufen. Mein gepflasterter Körper fühlt sich ausgebeutet und ist im Bummelstreik. Ist Humpeln auch gut für die psychische Gesundheit? Ich merk jedenfalls nix. Das ist doch auch wieder nur so ein Placebo-Trick, den Ärzte einem einreden, wenn sie auch nicht weiter wissen. Bewegung am Arsch. Keine Bewegung der Welt kommt gegen die psychotoxische Wirkung der Vorstadthölle an.
Ich humple über unkrautfrei gebrannte Bürgersteige an von Rasenmäherrobotern getrimmten Vorgärten mit akkurat gestutzten, aber komplett verregneten Rosensträuchern vorbei. Jeder Busch in Reih und Glied. Was sollen sonst die Nachbarn denken? Freundlich winken, während die Kinder im Tennisdress vom klimatisierten SUV ins Kataloghaus laufen. Freundlich hallo sagen, wenn man die Kinder zum Geigenunterricht fährt. Nur nicht persönlich werden. Aber ganz sicher gehen, dass die Nachbarn von der Beförderung des Gatten erfahren. Die Fassade glänzt! Und samstags wird gegrillt. Heile Welt. Hinter der Fassade hat der Vater zu laut gebrüllt, die Mutter zu viele Pillen, der Sohn zu viel getrunken und die Tochter viel zu lange nichts gegessen.
Habe ich da mein Leben in der Vorstadhölle beschrieben? Habe ich Lizzies Leben in der Vorstadthölle beschrieben?
Der Gedanke an Lizzie lässt mein Gehirn aus seinem Rauschen aufschrecken. Plötzlich bin ich wieder orientiert in Zeit und Raum. Vorstadthölle, Pappelstraße. Ein geschrumpfter Ort. Früher waren die Straßen viel länger. Die Häuser viel größer. Die Bäume viel höher. Plötzlich ist alles ganz gewöhnlich und klein.
Die Pappelstraße ist so kurz geworden, dass ich praktisch sofort vor Lizzies Haus stehe. Alte Gewohnheit. Unkraut wächst auf dem Gehweg. Büsche haben eigene Formen gebildet. Fenster sind nicht geputzt. Löwenzahn blüht an der Terrasse. Die Nachbarn denken eh schon. Die Gartentür quietscht leise.
Auch das Baumhaus ist ein geschrumpfter Ort. Für den Körper im Bummelstreik ist die Leiter mit zehn Sprossen trotzdem fast zu viel verlangt. Direkt hinter mir glitzert das Glas der Terrassentüren durch das dunkelgrüne Laub. Neben mir das Kataloghaus der Nachbarn. Vor mir, hinter den Büschen, fällt das hellgrün-gelblich wogende Gerstenfeld ab zur Autobahn. Es ist zum Kotzen hier. Früher wirkte die Welt so weit weg, wenn wir hier oben waren. Entrückt. Im Film käme jetzt eine Rückblende mit gestreutem Sommerlicht. Kinderlachen. Zwei blonde Mädchen laufen, kichern, spielen. Der Film in meinem Kopf hat nur eine Szene. Und ein ganz anderes Genre. Splatter. Blut und Geschrei. Alles hier ist Schmerz.
Schmerz in meinem Hals. Das Geschrei gehörte gar nicht nur zum Film in meinem Kopf. Das war ich selbst. Ich schreie nochmal, als eine Hand meine Schulter berührt. Beides ist real, auch wenn ich kurz nicht sicher bin. Lose Buchstaben bilden sich aus dem Gedanken-Blut. Bis sie endlich einen Namen formen, der zu dem Gesicht in der Baumhaustür passen. „Mark“, sage ich und es ist eine Feststellung und kein Gruß. Er sitzt plötzlich neben mir und stört den Gedanken-Sender.
Der schöne Mark, der sich nie in der Öffentlichkeit mit uns hätte sehen lassen. Der schöne Mark, der Schwarm aller Mädchen, unberührbar ob all seiner Coolness. Der schöne Mark, dessen kleine Schwester – irgendwann zwischen Ballettunterricht und Reitstunde – zur Rasierklinge gegriffen hat. Der schöne Mark, unberührbar ob seiner toten Schwester. Allein im Baumhaus mit der schreienden Freundin seiner toten Schwester, die mit neuem, billigen Lippenstift und neuem, billigen Gossip in das Blutbad hinter der glänzenden Fassade gestolpert und seitdem nicht in die Realität zurückgekehrt ist. „Es ist zum Kotzen hier“, stand in fahriger Schrift auf ihrer Schreibtischunterlage und keiner versteht’s, aber ich habe Verständnis.
Physische Bewegung für die psychische Gesundheit. Mark hat da möglicherweise mehr Erfahrung als ich. Jedenfalls läuft er viel schneller als ich. Und wahrscheinlich auch viel weiter als acht Kilometer bis zum Kollaps.
Es ist ein Wettkampf, aber wir kämpfen nicht gegeneinander, sondern gegen den Schmerz. Eh aussichtslos. Der Schmerz ist härter gedopt als ein Tour-de-France-Gewinner. Wir sind die Hasen und der Schmerz ist der Igel. Er ist überall schon da. Hier im Nirgendwo, zwischen feuchtgrünen Wiesen und grüngelben Feldern, wo die Vögel zwitschern und Bienchen summen und sich Schweißgeruch mit Schweißgeruch vermischt.
Mark joggt in langen Ovalen um mich herum, während ich dem Gegenwind Luft abzuringen versuche. Ich sehe eine Träne auf seinem Gesicht. Die ist nicht vom Gegenwind.
Ich habe noch kein einziges Mal geweint. Nichts in mir will sich lösen und ausgeweint werden. Alles in mir ist Wut und will schreien. Das Hirn schreit, schrei!
Der schöne Mark kann weinen und ich kann es nicht. Alles in mir ist Wut und Neid und will schreien. Ein Teil meines rauschenden Hirns, der Teil, der nicht schreien schreit, behauptet, weinen sei die Lösung. Nicht laufen, nicht schreien, weinen. Und der schöne Mark weint und ich nicht. Meine Wut sprintet auf ihn, packt ihn bei den Schultern und schreit ihn an. Und dann schreien wir zusammen.
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