Seit 143 Stunden habe ich nicht mehr geschlafen. Also, nicht mehr richtig, so mit Tiefschlaf und REM-Phase. So mit Erholung! Seit ungefähr 105 Stunden hatte ich keinen klaren Gedanken mehr. Seit mindestens 87 Stunden kann ich sowas nicht mehr ohne Hilfe des Rechners auf meinem Telefon ausrechnen. Seit mindestens 75 Stunden bin ich zeitlich und räumlich nicht mehr orientiert. Seit so ungefähr 56 Stunden bin ich nicht mehr immer sicher, wo ich eigentlich wohne. Und seit… irgendwie bin ich mir nicht mehr immer sicher, wie ich eigentlich heiße.
Jedenfalls stehe ich jetzt vor einer schmutzigweißen Tür mit einem Namen daran und einem Schlüssel in der Hand und natürlich passt er nicht. Ist es die falsche Tür oder der falsche Schlüssel? Ich suche vergeblich nach Hinweisen und möglicherweise habe ich mich schon länger nicht bewegt. Möglicherweise befinde ich mich seit Minuten in der Einschlafphase, die niemals in die Tiefschlafphase führen wird, schon allein, weil ich vor einer Tür stehe mit einem Namen daran und einem Schlüssel in der Hand.
Also, der Name. Ein Nachname. Ich bin nicht sicher, ob die Buchstaben alle in der richtigen Reihenfolge sind. Auf alle Fälle sind es zu viele und sie halten auch nicht still, um sich lesen zu lassen. Ich lehne an der Wand und versuche, die Augen aufzuhalten. Also ein Nachname. Und davor ein T. T. Tina, Tobi, Tabea, Torben, Tara, Thaddäus Tentakel. Ich bin der Schwammkopf.
Wo war ich? Also der Schlüssel für irgendeine Tür. Jedenfalls nicht diese schmutzigweiße Tür, so viel ist schon mal klar. Ich bin der Schwammkopf und auf keinen Fall Thaddäus.
Ich blinzle und sitze am Steuer eines Autos auf dem obersten Parkdeck von… irgendwo. Keine Ahnung, wie ich hergekommen bin. Die Sonne geht unter in all ihrer Farbenpracht. Es ist geradezu kitschig. Pink und lila und dazwischen die glitzernden Leuchten des Parkdecks. Kein anderes Auto weit und breit. Ein völlig unwahrscheinlicher Ort.
Wo komm ich her, wo will ich hin? Und was will ich hier? Und ist das eigentlich wichtig? Ich lege den Kopf aufs Lenkrad und warte auf so etwas wie Schlaf. Mein rechtes Ohr pfeift. So kann ich nicht schlafen. Pfeift das Ohr, weil ich nicht schlafen kann?
Die Beifahrertür wird zugeschlagen und Thomas sitzt auf einmal neben mir. Materialisiert aus dem Nichts. Er reicht mir eine Flasche Club-Mate und trinkt selbst ein Dosenbier. Koffein. Was für eine wunderbare Idee. Wir sitzen im Auto und die Dunkelheit schiebt sich in die Zwischenräume zwischen den greller werdenden Lichtern. „Willst du nicht fahren?“, fragt er. „Nein“, nuschle ich und lege die Stirn wieder aufs Lenkrad. Er tippt auf seinem Smartphone herum. Jedes Tippen erzeigt ein völlig unnötiges, künstlich erzeugtes klackerndes Geräusch. Welcher Idiot stellt denn bitte die Tastentöne nicht ab? Es macht mich richtig aggressiv. ES MACHT MICH RICHTIG AGGRESSIV! „Raus“, zische ich und er reagiert gar nicht. „RAUS!“, brülle ich und weil er nicht sofort reagiert, trete ich nach ihm. „Du hast sie ja nicht alle“, sagt er und steigt endlich aus. Ich weiß gar nicht so richtig, wie dieses Autofahren geht, aber ich fahre los.
Ich sehe wie Gerhard seine Lippen bewegt. Er redet offensichtlich. Ich höre ihn nicht. Mein rechtes Ohr pfeift so laut, dass ich gar nichts hören kann. Und in meinem Gehirn kommt sowieso nichts an. Ich höre ihn zum Glück nicht. Ich weiß, dass nur Gerhard denkt, dass das, was Gerhard sagt, irgendwie wichtig ist. Gerhard in seinem aschgrauen Anzug. Der graue Herr. Ich habe keine Zeit für Gerhard und sein Gerede. Ich muss arbeiten. Arbeiten. Habe ich das gerade wirklich gedacht? Arbeiten. Wie soll das gehen mit dem Schwammkopf? Ich sehe auf Gerhards Lippen und dann auf den Bildschirm meines Laptops. Zahlen und Buchstaben. Habe ich die da hingeschrieben? Ich kann mich nicht daran erinnern. Sollen die etwas bedeuten? Ich kann mich nicht daran erinnern. Was mache ich hier eigentlich? Ich stehe auf und lasse Gerhard, sein Gerede und meinen Laptop einfach stehen. Ich spare mir die Zeit mit dem grauen Gerhard. Vielleicht sollte ich mir auch die Zeit mit Thomas sparen.
Thomas sitzt an einem Tisch in einer Küche in einer Wohnung in einem Haus in einer Stadt an einem Tag in einem Monat in einem Jahr… Zeitlich und räumlich nicht orientiert. Wer sind wir eigentlich und was machen wir hier?
Also Thomas. Er sitzt am Küchentisch und trinkt ein Dosenbier. Ich stehe in der Küchentür und… weiß ich auch nicht. Möglicherweise habe ich ein bisschen gedöst. Mein Ohr pfeift und Thomas redet irgendetwas und vielleicht sind Thomas und Gerhard dieselbe Person, nur das Thomas blau ist. Blau trägt. Oder? Mein innerer Monolog muss sich dem geistigen Niveau eines Kleinkindes anpassen. Selbst das ist schwierig für den Schwammkopf. Gerhard ist mein Chef und Thomas ist mein Freund, erkläre ich mir selbst. Sie sind gar nicht dieselbe Person, aber vielleicht die gleiche. Oder so. Aber warum habe ich einen Chef und einen Freund? Will das innere Kleinkind wissen. Und das ist eine ganz schön gute Frage. „Ich kündige“, sage ich mitten in Thomas’ Satz hinein. „Was?“, fragt er. „Ich kündige“, wiederhole ich und gehe. Ich lasse Thomas, sein Gerede und sein Bier einfach hinter mir. Ich spare mir die Zeit mit dem blauen Thomas.
Ich fahre eine enge Straße entlang, grüne Büsche links und rechts lassen sie wie einen Tunnel wirken. Meine Gedanken rauschen an mir vorbei wie das Grün. „Ich muss arbeiten“, ist einer von ihnen und ich frage mich: Was denn eigentlich? Und warum überhaupt? Und gibt es nicht eigentlich dringendere Fragen? Wohin fahre ich überhaupt? Und was mache ich hier eigentlich?
Ich stehe mit den Füßen in einem See. Er ist so stahlgrau wie der Himmel. Wind kräuselt seine Oberfläche und mein Haar. Meine Hose hat sich bis zu den Knien mit Wasser vollgesogen. Ich atme. Blätter rauschen und mein Ohr pfeift ein bisschen. Ich habe meine Beziehung mit Thomas gekündigt und mit meinem Job bei Gerhard Schluss gemacht. Vielleicht… Vielleicht kann ich jetzt schlafen. So mit Tiefschlaf und REM-Phase. So mit Erholung!
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