3. Verhandeln

(2. Zorn)

Meine Schwester ist der schönste Mensch der Welt. Weiß wie Schnee, rot wie Blut und schwarz wie Ebenholz: Schneewittchen ist ein hässliches Entlein neben ihr. Meine Schwester ist klug und gut und witzig.

Als ich ein Kind war, wollte ich ständig bei ihr sein. Sie umarmen. Sie küssen. Als ich ein Teenager war, habe ich begonnen, mich hässlich zu fühlen neben ihr. Niemand hält dem Vergleich mit ihr stand – ich am wenigsten.

Meine Schwester ist schön, sie steht in den Pedalen ihres Fahrrads, sie lacht, der Wind bricht ihr Lachen und spielt mit ihrem Haar. Weiches Licht umgibt sie wie ein Kranz, als die Katastrophe hereinbricht. Sie schreit, es scheppert und etwas knackt. Die Zeit zerspringt in Milliarden Splitter. Blut breitet sich auf dem Bürgersteig aus. Dickes, dunkles, warmes Blut auf dem dunklen, warmen Beton. Rotes Blut in ihrem Haar, schwarz wie Ebenholz. Rotes Blut auf ihrem Gesicht, weiß wie Schnee.

So geht das Märchen nicht!, schreit es in meinem Kopf über das tausendstimmige Lachen, das aus dem Freibad quillt, hinweg. An meinen Händen klebt ihr Blut. So geht das Märchen nicht!

Die Zeit flackert wie ihr Blick. Sie will weiterlaufen wie bisher. Aber ich habe doch keine Zeit! Das Zeitkonto ist leergefegt. Und das meiner Schwester erst!

Gib uns nur einen Augenblick! Ich will bei ihr sein. Sie umarmen. Sie küssen. Vielleicht wacht sie auf. Vielleicht bin ich die Prinzessin, die sie weckt. Vielleicht kann ich das Märchen reparieren.

An meinen Händen klebt ihr Blut.

(4. Schuldgefühle)


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