Die ganz normale Teegesellschaft

Ich habe die Erinnerung einst für meine Freundin gehalten. Doch bei genauerer Betrachtung ist sie eher eine Feindin. Sie lügt, sie täuscht vor, sie erfindet, sie lässt weg, sie schmückt aus, sie verändert, sie dramatisiert, sie verschwimmt, sie schwächt ab, sie vermischt, sie macht, was sie will. Sie ist perfekt geeignet als Autorin für eine Telenovela, nicht als Freundin.

Ich wende mich ab von der Erinnerung und kuschle mich in die Arme der Einsamkeit. Die Einsamkeit ist eine Fake-Freundin. So eine, die dir sagt, dass du in dem Kleid super aussiehst und wenn du später die Fotos betrachtest, stellst du fest, dass du aussiehst wie eine Presswurst. Aber die Einsamkeit ist immer da. Sie ist nicht nachtragend. Wenn du ihr eine andere Freundin vorziehst, sitzt sie nur da, milde lächelnd, und wartet auf dich. Sie ist da und je größer sie wird, desto physischer wird ihre Präsenz. Die Einsamkeit ist die Mutter aller Freundinnen.

Ich koche einen zweiten Kaffee für die Einsamkeit. Und dann noch einen dritten für ihre Begleitung, die Angst. Die kleine, böse Schwester der Erinnerung. Sie bedankt sich mit einer festen Umarmung, die meinen Magen zusammenschnürt. Ich halte mich an meiner Kaffeetasse fest, um das Zittern meiner Hände zu unterdrücken. 

Der Kaffee wärmt meine Hände, er wärmt mich von innen und er lässt die Zeit verrinnen. Sie tropft dahin, dickflüssig wie Sahne. Die Einsamkeit rührt sie in ihren Kaffee und lacht mir ins Gesicht. Die Angst schiebt mir das Handy hin und drängt: „Na los!“ Ich muss den verpassten Anruf von heute Nacht beantworten. Auch wenn ich längst weiß, worum es geht. Die Angst setzt zum Siegestanz an und die Einsamkeit baut sich zu voller Größe auf.

Sie begleiten mich in einem Triumphmarsch zum Auto. Sie sitzen gemeinsam auf dem Beifahrersitz, während ich gen Westen fahre. Sie haben Snacks mitgebracht. Die Erinnerung hat sie ihnen eingepackt. Als wir am Abend aus dem Wagen steigen, sind sie gestärkt und bester Laune. Der Wald rauscht. Das Käuzchen ruft. Ich bin ausgebrannt. Der nächtliche Anrufer, mein Bruder, öffnet mir die Tür. Die Einsamkeit zischt beleidigt. Und macht sich dann dennoch breit im ganzen Haus.

Ich habe den Sinn von Gebeten nie verstanden. Wenn Gott doch überall und allwissend ist, warum muss ich ihm noch sagen, was ich von ihm will? Dass ich ihm dankbar bin? Oder dass ich ein Gebet auswendig gelernt habe?

Hier, unter den dichten, eng miteinander verflochtenen Kronen des Waldes habe ich dennoch das Gefühl, beten zu müssen. Vielleicht ist die direkte Verbindung gestört durch all das sattgrüne Laub, das sich noch immer mit allen Kräften wehrt gegen den Herbst und den strammen Wind, den er über die Felder schickt.

Ich bete dennoch nicht. Als wenn Gott Zeit hätte, sich ausgerechnet um mein aussichtsloses Anliegen zu kümmern. Sie stirbt und den Tod werde ich nicht aufhalten können. Wir sind schwer zu finden hier im Wald, durch den weder Radio noch 5G dringen – 3G vielleicht, wenn das Wetter schön ist in der Nacht. Doch der Tod hat dasselbe Navigationssystem wie Gott. Er wird kommen, eher früher als später.

Die Angst und die Einsamkeit umarmen mich fest von hinten. Sie brauchen keinen Schlaf. Sie laden ihre Batterien mit meiner Energie. 

Das Käuzchen ruft und sie ist tot. Meine Mutter ist gestorben. Die Einsamkeit öffnet geräuschvoll eine Flasche Sekt und weckt die Wut. Sie hat in meinem Bauch geschlafen und erhebt sich jetzt schäumend und brodelnd wie die Hydra aus dem Sumpf. Mit ihren zahllosen Köpfen will sie sich auf alles und alle gleichzeitig stürzen und zubeißen. Mit Wucht. Die Angst und die Einsamkeit zucken kurz wie eine Interferenz, dann hat die Verzweiflung ihren großen Auftritt. Aus dem Nichts rauscht sie herbei, die Primadonna im opulenten Kostüm. Wie ein Rugby-Spieler tackelt sie die Wut zurück in ihren Sumpf. Anders als ein Rugby-Spieler richtet sie sich ohne einen Fleck auf der Robe auf und nimmt von der Einsamkeit ein Glas Sekt entgegen. Ich bin zu ihrer Party nicht eingeladen, ich bin nur die Location.

Wir sitzen draußen am Weiher. Die Bäume, ihr sattes grünes Laub, die Sonne und die Wolken spiegeln sich im Wasser. Lassen es klarer wirken, als es ist. Wir starren auf den Tanz des Mooses auf den Ästen längst versunkener Bäume, aufgewirbelt von den Schwanzflossen träge dahingleitender Fische. Mein Bruder ist ein Fremder für mich. Ich weiß nichts über sein Leben. Über sein Verhältnis zu meinen ständigen Begleiterinnen Angst, Einsamkeit und Verzweiflung. Ich kann sie im Hintergrund kichern hören, bei ihrem fröhlichen Picknick im Wald. Sie haben vielleicht die beste Zeit ihres Lebens. 

Wir teilen Gene und Traumata. Die Erinnerung ist unser Bindeglied. Sie ist das geräuschvolle Schweigen, das mit dem Wald um die Wette rauscht. Vielleicht veranstalten seine eigenen Begleiterinnen ihr eigenes Picknick. Und nur er kann es hören. Ich höre derweil die Kraniche krächzen und die Amseln schimpfen.

Wir starren auf das Wasser, das sich im aufkommenden Wind kräuselt. Er schnieft, springt auf und reicht mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Dann fängt es an, zu schütten.

Ich fahre gen Osten. Der Wald lichtet sich und die Sonne scheint mir grell ins Gesicht. Ungeniert. Ungerührt. Ich blicke zur Seite und zu meiner Überraschung sitzt statt der üblichen Gang nur die Gleichgültigkeit neben mir. Sie kommt mir heute besonders sexy vor. Sie sitzt da und schaut unbewegt aus dem Fenster. Wir schweigen.

Ich stelle das Auto auf dem Parkplatz ab. Der Gedanke daran, in meine Wohnung zurückzukehren, verursacht mir pochende Kopfschmerzen. Also treffe ich eine andere Entscheidung.

„Ihr braucht nicht auf mich warten“, sage ich zu Einsamkeit, Verzweiflung und Angst. Sie sitzen auf der Rückbank und waren schon dabei, ihren knallroten Lippenstift nachzuziehen. Die Angst zischt empört, die Verzweiflung guckt überheblich und die Einsamkeit lächelt milde.

Ich fordere stattdessen die Gleichgültigkeit auf, mich zu begleiten. Wir gehen in die Kneipe an der Ecke und ich bestelle uns zwei Bier. Vier Bier. Viel Bier. Die Realität rückt in angenehme, fast erträgliche Ferne. 

Plötzlich prostet mir die Angst zu und die Einsamkeit kommt mit frisch gepuderter Nase von der Toilette. Die Verzweiflung stellt noch ein Bier vor mich auf den Tresen. „Wohlsein“, sagt sie. Ernsthaft?

„Ganz schön Durst, wa?“, sagt eine Männerstimme neben mir. Die ist mir neu. Er ist groß, blond, durchtrainiert, ein bisschen verlebt im Gesicht. Muss reichen, findet mein Pegel und drückt die Brust raus. „Wohlsein“, sage ich und stoße mit ihm an.

Die Einsamkeit lächelt milde. Die Verzweiflung zapft ungerührt Bier. Die Angst zischt: „Meinst du, der ist besoffen genug, um dich nackt sehen zu wollen?“ Ich versuche, das Ziehen in meinem Bauch zu ignorieren. „Mir doch egal“, lüge ich. „Wa?“, fragt er. „Zu dir!“, sage ich. Er guckt kurz überrascht, dann gehen wir zu ihm.

Er hat ganz offensichtlich nichts dagegen, mich nackt zu sehen. Ich habe jedenfalls nichts dagegen, ihn nackt zu sehen. Unsre Körper machen sich kurz höflich miteinander bekannt, dann lassen sie ziemlich schnell alle Etikette fahren. Mein Blick wandert und trifft auf den der Gleichgültigkeit. Sie sitzt im Schneidersitz am Fußende des Bettes und sieht uns zu. Sie guckt – nun ja – gleichgültig. Ich kann es ihr kaum verdenken, die Show, die wir ihr bieten, ist doch recht durchschnittlich. Plötzlich steht die Gleichgültigkeit auf und bittet den Ekel herein. Der feine Herr schaut pikiert und ich fühle mich gestört. Abrupt beende ich die Show und rutsche unter dem Blonden hervor. Ich will nach Hause.

Ich stoße die Tür zu meiner leeren Wohnung auf. Wie eine Ballerina springt die Einsamkeit voraus und nimmt mit formvollendeten Arabesquen und ihrem bauschigen Tutu den Raum ein. Wenigstens ist sie da. Die Angst stößt mich ungeduldig über die Schwelle. Die Verzweiflung sitzt bereits am Tisch wie ein fetter, selbstzufriedener Großgrundbesitzer. Die Erinnerung hat schnulzige Musik angemacht. Die Depression hat den Tee vorbereitet und wärmt schon mal das Bett vor. Es ist alles wie immer.


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7 Antworten auf „Die ganz normale Teegesellschaft

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  1. Okay, ich musste den Text zweimal lesen. Nicht weil er unverständlich ist, sondern weil ich den Ansatz interessant finde. Glaube nicht, dass ich das so schonmal gelesen habe – die Wesenszüge derart personifiziert. Sehr gut geschrieben, ohne Zweifel!

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