Anti-Heldenreise

Züssow. Wörth am Rhein. Neu-Eichenberg. Hamburg-Hasselbrook. Bad Kleinen. Appenweier. Umsteigebahnhöfe, die nur zum Umsteigen existieren. Irgendwo im Nirgendwo. Verlassen und zugig, zerfressen vom Zahn der Zeit. Eine Werbewand, deren Botschaft seit zwei Jahren veraltet ist. Singende Oberleitungen und schweigende Menschen. Aufs Handy starrend. Rauchend. Ins Leere schauend. Wartend. Zurückgezogen in sich selbst. Wartend. Ich glaube nicht, dass je jemand eine Fahrkarte nach Züssow gelöst hat, um Züssow zu besuchen. Oder Appenweier. Niemand hätte auch nur die geringste Erinnerung an diese Bahnhöfe, wäre er nicht zum Umsteigen an diesen verlassenen Orten voller Menschen gezwungen worden.

Züssow. Wörth am Rhein. Neu-Eichenberg. Hamburg-Hasselbrook. Bad Kleinen. Appenweier. 50 shades of grey – ganz ohne Sexyness – im Winter. Schauplätze eines Sommerfilms im Sommer. Diese Sommerfilme, die wie von der wahren Sommerhitze flimmernd vom Aufbruch erzählen. Der letzte Sommer vor dem Erwachsensein, eine unerwartete Wendung, ein traumatisches Ereignis, das alles verändert, die Persönlichkeit der Protagonisten formt. So ein Bahnhof irgendwo im Nirgendwo, an dem jemand, der eigentlich ein Niemand war, zu seiner Heldenreise aufbricht. Im Sommer. Dem Sommer seines Lebens.

Hitze flimmert. Oberleitungen singen. Tauben tanzen. Menschen warten. Hier beginnt keine Heldenreise. Es ist kein Aufbruch. Es ist nicht einmal die Fortsetzung einer Reise. Hier draußen, irgendwo im Nirgendwo, gibt es keine Durchsagen zu Verspätungen. Knacken und Knarzen im Lautsprecher lässt die Wartenden kurz aus ihrer Zurückgezogenheit aufschrecken, um verständnislose Blicke auszutauschen.

Die digitale Anzeige am Gleis informiert über 10 Minuten Verspätung des RE 6. Die digitale Anzeige informiert über 20 Minuten Verspätung des RE 6. Die digitale Anzeige informiert über 60 Minuten Verspätung des RE 6. Beginnende Heldenreisen und Fortsetzungen bereits begonnener Heldenreisen, sie scheitern an „Störungen im Betriebsablauf“. 

Flimmernde Hitze, singende Oberleitungen, keine alternativen Reisemöglichkeiten. Kein Klo. Kein Kiosk. Kein Netz. Kein Regionalexpress. Keine Heldenreise. Jemand rüttelt am Snackautomaten. Er ist möglicherweise im Betriebsablauf gestört. Die digitale Anzeige informiert über den Ausfall des RE 6 mit dem langen, numerischen Namen. 

Weißes Rauschen im Lautsprecher kündigt eine weitere Durchsage in undechiffrierbarem Code an. Erwartungsvolle Spannung liegt in der Luft. Schließlich warnt eine ferne Stimme murmelnd vor einer Zugdurchfahrt auf Gleis 1. Wie aus einer anderen Zeit. Frust und Enttäuschung liegen in der Luft. Die Zeiger der Bahnhofsuhr kriechen zitternd voran. Auf Gleis 1 rauscht ein ICE durch. Wie aus einer anderen Zeit. Reisen. Fortkommen. Klimaanlage. Bordbistro. Wie aus einem anderen Universum. Dem Universum, in dem es noch Heldenreisen gibt. Eine Realität, die unserer entrückt ist. Ein beschmiertes Wahlplakat klappert im nachlassenden Sog des ICEs.

Eine dieselnde Regionalbahn spuckt weitere Reisende aus, deren Reise hier nicht enden soll. Sie werden von Rauschen und Knacken im Lautsprecher begrüßt. War da eine Stimme zu hören? Sie kam aus dem fernen Universum. Die digitale Anzeige informiert über 30 Minuten Verspätung des nächsten RE 6. „Ihre nächsten Anschlussmöglichkeiten…“ Wunschdenken. Die Regionalbahn dieselt, die Hitze flimmert, die Zeiger der Bahnhofsuhr am verrammelten Bahnhofsgebäude zittern. Reisende werden zu Gestrandeten. Beißender Uringeruch steigt aus der Unterführung empor. Er mischt sich mit dem allgegenwärtigen Geruch nach Schweiß. Die leere Regionalbahn zischt und dieselt davon ins Nirgendwo. 

Das rote Lämpchen am Smartphone blinkt. Der Akku ist bald leer. Eine existenzielle Bedrohung unserer Zeit. Die letzte Verbindung zum QR-Code des Tickets, das mir Deutschland verspricht und mir irgendwo im Nirgendwo gibt, sie droht, gekappt zu werden. 

Das Gittermuster der unsitzbaren Bank im Wartehäuschen hat sich unwiderruflich in meinen Arsch gepresst. Ich fantasiere von Positionswechseln auf der unsitzbaren Bank. Sonst sind meine Fantasien aufregender. Hitze und Resignation fesseln mich an die unsitzbare Bank. Die zitternden Zeiger der Bahnhofsuhr haben in einem solidarischen Akt ihre Reise über das Ziffernblatt unterbrochen. Zittern ohne Vorankommen. Fünf vor 12. Bis auf Weiteres. Rauschen und Zischen, Knacken und Knarzen. Eine ferne Stimme. Eine Zugdurchfahrt. Andere Richtung. Die Zivilisation rauscht vorbei und wirbelt heißen Wind, alte Kaffeebecher und den Geruch von Urin durch die Trostlosigkeit des Umsteigebahnhofs. Eine Taube steht inmitten eines klebrigen Flecks, den eine undefinierbare Flüssigkeit auf dem Bahnsteig hinterlassen hat, und beäugt mich kritisch. 

Ich fahre nicht gern Zug. Die erzwungene Untätigkeit durch Rumsitzen, fehlendes Netz und zu viel Unruhe für entspannte Lektüre bringt meine Gedanken zum Wandern. Und meistens wandern sie an den Abgrund. Wie so ein Vollidiot schaue ich immer wieder hinein in den Abgrund. Herzrasen. Kalter Schweiß. Atemnot. Filmriss. Keine Ahnung, wie ich an den Abgrund geraten bin. Und wo ich eigentlich aussteigen muss. Störung im Betriebsablauf.

Wer aussteigen will, muss allerdings erstmal einsteigen und danach sieht es vorerst nicht aus. Die digitale Anzeige informiert über 45 Minuten Verspätung des RE 6 2.0. Das Display meines Smartphones teilt mir mit, dass ich möglicherweise neue Nachrichten habe. Das kleine E oben rechts in der Bildschirmecke sagt energisch nein. Keine Chance auf Nachrichten irgendwo im Nirgendwo. Es ist ein Netz, keine Decke. 15 Prozent Akku. Ich bin verloren. Die singenden Oberleitungen lachen über meine Misere. Die Taube hat einen Freund gefunden. Wenigstens zwei, die diesen Bahnhof sexy finden.

Der Weg ist das Ziel, sagen sie und ich frage mich, ob das Ziel der totale Stillstand ist. Und ob der Stillstand nicht vielleicht erstrebenswerter ist als das tägliche Streben. Nach was auch immer. Wohin führt uns das Streben? Zum Glück? Oder nur an einen Umsteigebahnhof irgendwo im Nirgendwo?

Die digitale Anzeige informiert über den Ausfall des RE 6 2.0. Meuterei liegt in der Luft. Wird dem totalen Stillstand eine unerwartete Wendung, ein traumatisches Erlebnis entspringen?

Ich will mein sterbendes Smartphone fragen, ob irgendwo in der Nähe doch noch einer der zwei Busse, die hier so pro Tag fahren, abfährt. Egal wohin. Hauptsache weg von hier. Jemand hält mir etwas Schwarzes vor die Nase. Ich starre lange auf den Gegenstand, ohne ihn identifizieren zu können. Dann folge ich mit dem Blick dem Verlauf des ausgestreckten, ziemlich haarigen Arms. Dreitagebart, schwarzes Wuschelhaar, leuchtend grüne Augen. Attraktiv irgendwie. Auch wenn er ein bisschen aussieht, als würde er schon länger als ich auf den Zug warten. So zwei bis drei Wochen. Mir kommt das irgendwie gar nicht mehr unrealistisch vor.

„12 Prozent Akku“, sagt er und lässt mit alarmiertem Gesicht die Luft durch seine Zähne zischen. Wann hat der sich neben mich gesetzt und auf meinen Bildschirm gestarrt? Creep. Er wedelt mit dem schwarzen Gegenstand. „Powerbank“, sagt er. Ich zucke mit den Schultern. „Eh kein Netz.“ 

Er riecht nach Schweiß und Zigarettenrauch. Er nimmt mir das Telefon aus der Hand und verbindet es mit der Powerbank. „Eh kein Entkommen“, sagt er. „Wir müssen ein Fahrrad klauen oder so.“ Er zeigt auf die verrottenden Räder, die auf der anderen Seite der Unterführung darauf warten, dass sie zu Kompost werden. Die gesichtslosen Menschen, die sie einmal dort gelassen haben: Sie sind nie zu ihnen zurückgekehrt. Verlorene Bahnhofsseelen. Verlorener als wir.

Rauschen und Zischen, Knacken und Knarzen. Eine ferne Stimme. Eine Zugdurchfahrt. Am dunkelgraublauen, hitzeflimmernden Horizont zeichnet sich die rot-weiße Schnauze eines ICEs ab. Reisende Helden. Was ist das Gegenteil von verlorenen Seelen? Fahrgäste im ICE. Mit Sitzplatzreservierung. 

Der Creep zündet sich eine Zigarette an. „Willste nicht in den Pinkelbereich gehen?“, frage ich bissig und zeige auf das mit orangefarbenem Klebeband um einen Aschenbecher gezogene Quadrat. Er inhaliert und lacht gleichzeitig, was eher nach bellendem Husten klingt. „Nee“, brüllt er gegen den vorbeirauschenden ICE an. „Ich muss grad nicht.“ Der Sog der Zivilisation peitscht uns mit heißer Mittagsluft und Zigarettenrauch. „Arschloch“, sage ich so laut, dass es gegen einen durchfahrenden ICE ankommen könnte. Der ICE ist allerdings schon durchgefahren. Leute starren. Ich fummle klebrige Haare aus meinem Gesicht. Ihr seid alle gemeint, denke ich und gucke auf die Bahnhofsuhr. Zitternde Zeiger. Fünf vor 12.

Der Creep raucht genüsslich seine Zigarette. Dann schmeißt er den Stummel auf den Boden und tritt ihn mit seinem ausgetretenen Turnschuh aus. Der Stummel bleibt liegen. Arschloch, denke ich und meine alle, die immer noch starren.

Ohne Vorwarnung und gänzlich unangekündigt fährt ein RE 6 ein. Schnaufend steht er im Gleis. Niemand steigt aus. Aber alle drängen hinein. Ich sitze auf der unsitzbaren Bank und starre. An der RE-Tür direkt vor mir hängt ein gelber Zettel und informiert über eine Türstörung. „Bitte die anderen Türen benutzen“, sagt der Zettel. Vor den anderen Türen haben sich Trauben mit maskierten Menschen gebildet. Auch der Creep hat sich eine Maske übergestülpt. Er reicht mir mein Telefon.

„Willste nicht einsteigen?“, fragt er. 

Flimmernde Hitze. Unsitzbare Bank. Gittermuster in meinem Arsch. Zitternde Zeiger. Singende Oberleitungen. Schnaufender Regionalexpress. Starrende Menschen. Trostloser Umsteigebahnhof. Das Ende des Stillstands. Die Fortsetzung der Reise. Die Geburt einer Heldin?

Aufsteigende Angst.

„Nee“, sage ich. „Muss ich grad wirklich nicht.“ 

Er nimmt die Maske ab. „Was musst du dann?“ Ich habe keine Ahnung. Ich löse meine aneinanderklebenden Oberschenkel voneinander und meinen gemusterten Arsch von der unsitzbaren Bank. Ich zeige auf die zitternden Zeiger der Bahnhofsuhr. „Fünf vor 12“, sage ich. „Ich muss mal da raus ins Nirgendwo.“ Und zeige auf das Nirgendwo hinter dem verrammelten Bahnhofsgebäude.
Er tippt sich an die Stirn. „Was stimmt denn mit dir nicht?“

Ich tippe mir an die Stirn: „Störung im Betriebsablauf.“


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