Der Friedhof der vergessenen Worte

18 Millionen Worte zählt der Duden in seinem Korpus. Zwischen 300.000 und 500.000 davon sind Teil der Gegenwartssprache. 50.000 davon versteht ein Muttersprachler im Durchschnitt. Und 12.000 bis 16.000 davon benutzt er auch. 

Es scheint, als seien wir Amateure in unserer eigenen Sprache.

Einer im Jahr 2007 in der Zeitschrift „Science“ veröffentlichten Studie zufolge spricht ein Mensch im Durchschnitt 16.000 Worte pro Tag – dabei ist es übrigens egal, ob es sich um Männer oder Frauen handelt. 

Die Frage ist, wie sinnvoll all das Gesagte ist.

Millionen achtlos liegen gelassene Worte. Millionen achtlos dahingesagte Worte. Achtlos wiederholte Worte. Und so viel bleibt dabei ungesagt.

Ich spreche sicher mehr als 16.000 Worte pro Tag. Dabei spreche ich nicht mal besonders gerne. Und ich habe wahrscheinlich auch nicht viel zu sagen. Die meisten Worte, die ich spreche, sind allerdings auch gar nicht meine. Die meisten von ihnen werde ich am Abend schon wieder lang vergessen haben.

Die Worte, die ich sage, gehören jemand anderem. Und der hat sie wahrscheinlich nicht mal selbst erdacht, sondern jemanden dafür bezahlt, sie aneinanderzureihen. Die Worte, die ich sage, bedeuten mir meistens gar nichts. Die Worte, die ich sage, sind Worte die ich höre, ohne dass sie an mich gerichtet sind. Dennoch nehme ich sie auf, forme sie um und spucke sie wieder aus. In einer anderen Sprache. Ich dolmetsche. Eines dieser Worte, die kaum jemand kennt. Und noch weniger Menschen benutzen es richtig.

Ich liebe die Stille von Dolmetschkabinen vor Konferenzbeginn. Wenn man die Tür hinter sich zuzieht, bleibt die Welt mit all ihrem Lärm draußen. Man ist allein mit all den Worten, die hier gesprochen wurden. Verstottert wurden. Doppelt gesagt wurden. In der falschen Reihenfolge gesagt wurden. Falsch verstanden wurden. Verwechselt wurden. Vergessen wurden. Abgehackte Endungen, vernuschelte Übergänge, peinliche Pausen, verschüchterte Fragezeichen und übergangene Ausrufezeichen. Es ist ein Schlachtfeld nach der Schlacht. 

Man wischt all die Wortreste von der Tischplatte, stellt den Kaffee ab, die Wasserflasche, den Laptop, legt das Handy daneben, den Notizblock, den Kuli, den Ersatzkuli und den Ersatzkuli für den Ersatzkuli. Während man auf die Kollegen wartet, bereitet man sich auf die nächste Schlacht vor: Man schließt den Laptop ans Stromnetz an, das Handy an den Laptop, man ruckelt die Kopfhörer auf dem Kopf zurecht, zuppelt das Mikro in Position. Die Rüstung sitzt. Man verbindet den Laptop mit dem Wlan, öffnet das Glossar, die Gästeliste, das Redemanuskript, das Online-Wörterbuch. Die Strategie ist immer dieselbe.

Die Schlacht hat noch gar nicht begonnen und dennoch sind schon so viele Worte im Raum.

Ich hasse es, wenn sich der Konferenzbeginn verzögert. Wenn sich die Dolmetschkabine mit noch mehr und vollständig unnötigen Worten füllt. Smalltalk.

Das Wetter. Alle sprechen immer über das Wetter. 

Wetter existiert in einer Dolmetschkabine nicht. Die Dolmetschkabine ist eine eigene, abgekapselte Welt ohne spürbaren Zustand der Atmosphäre. In dieser gedämpften Parallelwelt, die oft nicht einmal einen Blick auf das Wetter in der richtigen Welt da draußen erlaubt, existieren nur gute Klimaanlagen und schlechte Klimaanlagen. In dieser Welt ist das Wetter eine grammatische Übung. Die Konjugation des Verbs in allen seinen Zeitformen und Modi. Es regnet. Es war bewölkt. Die Sonne hat geschienen. Es hatte geschneit. Es wird kalt. Es wird schön gewesen sein. Wäre es wärmer, führe ich an den Strand. Im Süden soll es gerade sehr windig sein. Ich behaupte, es sei schlecht gewesen.

Jede Menge Worte, die von niemandem empfangen werden möchten. Und so unverfänglich sind, dass niemand sich je daran erinnern wird, dass sie einmal gesprochen wurden. Sie verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen. 

Oder? Wenn die Wortschlacht beginnt, träumt so mancher vielleicht doch weiter vom sonnigen Süden. Derweil fangen wir große Worte, gesprochen, um andere klein zu halten, und legen sie behutsam in die Ohren unserer Empfänger. 

Kein Dolmetscher übersteht solche Schlachten unbeschadet. Am Ende kleben einem immer Wortleichen an den ausgetrockneten Lippen. Und ein bisschen Peinlichkeit, die unser Gestolpere im Kampf zurücklässt. Wenn wir Glück und viel Übung haben, hat niemand das Stolpern bemerkt. Aber wir wissen, dass es da war.

Leichter Sprühregen erwartet uns draußen in der richtigen Welt. Er spült Peinlichkeit von den Lippen und Schwere aus dem Kopf.

Das Wetter und die richtige Welt treiben uns in die U-Bahn. Die U-Bahn war einst ein wortleerer Ort. Schweigen, Dissoziation und grässliches Licht waren hier die Herrscher. Das grässliche Licht ist immer noch da. Doch jetzt greifen auch die Worte nach der Macht. Kaum jemand spricht, doch niemand schweigt. Zahllose Worte werden in Telefone getippt. Ununterbrochen wird gesendet und empfangen. 

Ist mehr Kommunikation bessere Kommunikation?

Mein Telefon vibriert. Jemand hat mir eine Nachricht geschickt. Ein Katzen-Meme. Ich dissoziiere. 

U-Bahnfahren gehört zu den schlimmsten Strafen der modernen Zivilisation. Das grässliche Licht. Der grässliche Geruch. Der grässliche Lärm. Der grässliche, furzwarme Wind aus dem Tunnel.

U-Bahnfahren ist der eine Moment am Tag, an dem ich mit niemandem sprechen muss. Vielleicht drehe ich noch eine Runde um den Ring.

In der Wohnung warten so viele Worte. Behördenpost voll vollkommen unverständlicher Worte, aneinandergereiht zu noch unverständlicheren Sätzen. Dokumente voll vollkommen uninteressanter Worte, die übersetzt werden wollen. Ein Mann voller Worte, die erzählt werden wollen – sofort und ab der Sekunde, in der ich die Wohnung betrete. Es ist total egal, ob das Wort „hallo“ zu diesen Worten gehört. Oder: „Wie geht es dir?“ Es ist auch total egal, ob ich tatsächlich zuhöre oder nicht. Ich kann ihn einfach beiseite schieben, mir Essen warm machen, derweil mehr Worte in E-Mails lesen, Aufträge annehmen, essen, einen Anruf ignorieren, ein Glas Wein trinken, meine unsäglich unbequeme Kleidung in den Wäschekorb werfen, einen Anruf ignorieren, meine Zähne putzen, mich aufs Sofa legen, den Fernseher einschalten, einen Anruf ignorieren. Seine Worte sind noch immer nicht aufgebraucht. Sie haben aber meine Energie aufgebraucht. Das Telefon klingelt.

Er fragt, ob ich nicht rangehen will. Er hat also meine Existenz bemerkt.

Ich habe keine Energie mehr für Worte. Aber vielleicht sind andere Worte weniger anstrengend als seine Worte. Ich gehe ans Telefon. Fernsprechen. Weil nahe Worte noch nicht quälend genug sind. „Fasse dich kurz.“ Das hat lange keiner mehr getan. 

Was ist eigentlich aus dem guten alten Telegramm geworden? Wenn man es googelt, spuckt einem der Algorithmus lauter Ergebnisse zum Messenger Telegram aus. Man muss erst auf „stattdessen suchen nach Telegramm“ klicken, um zu erfahren, dass die Post diesen Dienst zum 31.12.2022 eingestellt hat. Niemand fasst sich mehr kurz. Das Telegramm ist tot. Twitter ist tot. X ist… lassen wir das.

Die Anruferin fasst sich kurz. Wir kennen uns nicht. Ihre Nachricht ist kurz. Sie bedarf keiner ausführlichen Verpackung. Mein Vater ist tot.

Ich habe seit vielen Jahren nicht mit meinem Vater gesprochen. Er sprach nicht besonders gerne. Und wir hatten uns auch nichts zu sagen. 

Ich stehe vor dem Haus meines Vaters. Der Regen kommt von der Seite. Alles ist grau. Niemand hier außer dem Wetter. Man sagt von den Menschen in dieser Gegend, sie seien nicht sonderlich gesprächig. Wüsste auch nicht, worüber man hier sprechen sollte. Darüber, wie grau es war? Grauer als letzte Woche. Etwa so grau wie die Woche davor. Darüber, wie nass man geworden ist? Nur bis auf die Haut oder bis auf die Knochen? Kommt vielleicht darauf an, wie viel Gischt im Regen war. Warum denke ich jetzt über Osmose nach?

Ich gehe aus dem Regen hinaus ins Haus. Es ist nur unwesentlich weniger feucht. Es ist nur unwesentlich weniger grau. Ein wortleerer Raum. Keine Bücher. Nicht einmal ein Fernseher. Keine Erinnerung an eine Unterhaltung.

Ob ich noch persönliche Gegenstände aus dem Haus mitnehmen will, hat man mich gefragt. Ich weiß gar nicht, wonach ich suche. Ob ich überhaupt irgendetwas suche. Ob ich irgendetwas finden will. 

Ich finde vor allem leere Schnapsflaschen. So persönlich. Eine leere Bierflasche. Wie originell. Ausgewogene Ertränkung. Mein Herz rast. 

Ich stürme hinein in den Regen. Das Haus umtanzt mich. Flashbacks zittern in meinem Kopf. Ich bekomme keine Luft. Atmen im Quadrat am Arsch. Ich ertrinke im seitwärts fallenden Regen. Mein Herz rastet aus. Und der Kopf schaltet auf Standby.

Auf dem Friedhof kommt der Regen von der anderen Seite. Das Grau ist mehrere Nuancen dunkler geworden. So dunkel wie die Gesichter der Anwesenden. Jemand spricht Worte, aber der Regen spült sie ungehört davon. Wer weiß, ob sie irgendeinen Inhalt hatten. Eine Botschaft. Eine wahre Erinnerung an meinen Vater enthielten. Oder nur leere Worte im wortleeren Raum waren.

Wie viele Worte braucht es für einen Abschied? Für einen Abschluss? Und wie viele Worte braucht es für Vergessen?

Ich habe den ganzen Tag noch kein einziges gesagt. Eigentlich der Idealzustand. Wäre da nicht das Zittern in meinem Kopf. Wie viele Worte passen in eine Therapiestunde? Mein Kopf teilt eine wild geschätzte Wortanzahl durch die Kosten für eine Therapiestunde und fragt sich, ob die Therapeutin pro Wort besser bezahlt wird als die Dolmetscherin. Bei jeder Rechenoperation ist das Ergebnis 404. Die Fehlermeldung reicht für Sozialneid und Sinnkrise.

Menschen schmeißen einem Sarg Sand und Blumen hinterher. Von der Seite kommt reichlich Regen. Ich stehe am offenen Grab und sehe einen Sarg, nassen Sand und in kleinen Pfützen schwimmende Rosen. Ich habe kein Bild von meinem Vater in meinem Kopf. Nur zitternde Flashbacks. Mir ist schwindelig. Sollte ich etwas sagen? Ich torkele nach vorn. Ich habe keine Worte. In meinem Kopf ist alles schwarz. Mein Fuß tritt ins Leere. Ich habe nichts zu sagen.


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4 Antworten auf „Der Friedhof der vergessenen Worte

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  1. Ja, was kommt hinter den Worten? Das Unsagbare, Unbeschreibliche? An richtig guten Tagen ist die Brücke geöffnet, dieser schmale Steig zwischen Gefühl und Verstand, die beide Worte finden für eigentlich Unsagbares.

    Danke & Gruß Reiner

    Gefällt 2 Personen

    1. danke dir!
      Vielleicht isses hier auch gerade sehr ruhig, weil ich vielleicht vor ein paar Monaten vielleicht einen gar nicht mal so unwichtigen Preis (mit vielleicht gar nicht mal so wenig Asche dotiert) für einen Text bekommen habe, was vielleicht jede Menge Termine nach sich gezogen hat und ich mich vielleicht mal ein bisschen auf den Arsch setzen muss damit das Ganze vielleicht auch mal im Buchhandel auftaucht 😳

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